Begeistern für die Begeisterung.

Begeistern für die Begeisterung.

“Das hier ist die Station ‘Mein Bildungsweg’ – lasst eurer Kreativität freien Lauf! Ihr dürft die Zeitungen zerschneiden und zerfetzen, dafür sind sie da!” Die Dozentin deutet auf einen Tisch voller Zeitschriften, Scheren, Kleberflaschen und Fotos. Die 15 Kursteilnehmer_innen schauen sich etwas ratlos an. Sie alle wollen Elternbegleiter_innen werden – dass es dabei auch um den eigenen Werdegang und das Hinterfragen gewohnter Positionen geht, ist zunächst ungewohnt. Doch ungewohnt ist vieles an dieser Schulung, die auf den Grundsätzen der dialogischen Haltung aufbaut.

Die Schulung ist Teil des Programms “Elternchance ist Kinderchance” des Bundesfamilienministeriums, das Eltern stärker in die frühe Förderung ihrer Kinder einbeziehen möchte. 4.000 Fachkräfte der Familienbildung werden zu Elternbegleiter_innen qualifiziert – fünf Familienbildungsverbände haben die Qualifizierung gemeinsam entwickelt. Die dialogische Haltung wird nicht nur vermittelt, sondern auch in den Schulungen praktiziert: Die Teilnehmer_innen werden eingeladen, das Einander-Zuhören zu genießen und radikalen Respekt zu zeigen. Wissen soll gemeinsam herausgefunden und erarbeitet werden – die eigene “Wirklichkeit” ist stets nur ein Teil des Ganzen. Nach der Schulung sollen die Elternbegleiter_innen dann Familien als Vertrauenspersonen zur Seite stehen und sie auf dem Bildungsweg der Kinder unterstützen.

15 dieser 4.000 zukünftigen Elternbegleiter_innen haben sich an diesem Augusttag in Berlin zusammengefunden. Das dreitägige erste Modul trägt den Titel “Bildungsverläufe in Familie und Institutionen”. Am heutigen Nachmittag geht es um verschiedene Begriffe von Bildung. Die beiden Kursleiterinnen haben hierzu einen “Bildungsparcours” aufgebaut: An drei verschiedenen Stationen soll in Kleingruppen erarbeitet werden, was Bildung für jede_n einzelne_n bedeutet.

Während die ersten Schere und Kleber in die Hand nehmen, um ihren eigenen Bildungsweg als Collage darzustellen, gehen andere Teilnehmer_innen in den Nebenraum. Auf einem großen Tisch verteilt liegen hier Zitate zum Thema Bildung aus, von Heraklit über Goethe bis hin zu Einstein. Die Teilnehmer_innen diskutieren sie heftig – genau wie den Text „Begeisterung ist Doping für das Gehirn“ von Gerald Hüther. Der Hirnforscher beschreibt darin, dass vielen Erwachsenen die Begeisterung verloren geht: Kleinkinder erlebten allein an einem Tag 20 bis 50 Mal einen Zustand höchster Begeisterung. Jedes Mal komme es dabei im Gehirn zur Aktivierung der emotionalen Zentren. Die Botenstoffe, die dann ausgeschüttet werden, führten am Ende zu neuen Nervenverknüpfungen – Begeisterung führt bei Kindern also dazu, dass sie schneller Lernen. Das Zitat von Heraklit, das eine Teilnehmerin ausgewählt hat, passt hierzu. Schon vor zweieinhalb tausend Jahren wusste er: “Bildung ist nicht das Befüllen von Fässern, sondern das Entzünden von Flammen”.

Die Teilnehmer_innen kennen das Phänomen noch aus ihrer eigenen Kindheit: Geburtstage und Telefonnummern von Freund_innen waren immer einfacher zu merken als mathematische Formeln. Probleme in der Schule und schlechte Noten lagen oft an der fehlenden Begeisterung für die Inhalte. Eine Aufgabe von Elternbegleiter_innen ist es daher, Begeisterung bei Kindern und Eltern zu wecken. Oder, wie es eine Teilnehmerin ausdrückt: “Wahrscheinlich müssen wir Eltern dafür begeistern, sich für die Begeisterung ihrer Kinder zu begeistern…”

Viele Kinder bringen nur noch wenig kindliche Neugierde und Begeisterungsfähigkeit in die Kitas, meint eine Teilnehmerin. Viele Eltern wissen umgekehrt nicht mehr, wie sie ihre Kleinkinder unterhalten und ihre Begeisterung wecken sollen: “Eltern von 6monatigen kommen zu mir und sagen, mein Kind sitzt zu Hause und langweilt sich, es muss zur Tagesmutter oder in die Kita!” berichtet sie. Durch ihren Bildungsauftrag setzen sich viele Eltern stark unter Druck – ohne sich bewusst zu machen, dass Bildung oft auch in kleinen, alltäglichen Dingen und Handlungen steckt. Genau hierum geht es in der letzten Station des Bildungs-Parcours: Gemeinsam soll die Gruppe nach Bildungspotenzialen im Alltag suchen.

Schnell wird deutlich, dass Kinder schon bei alltäglichen Handlungen enorm viel lernen: So schulen z.B. Treppensteigen und Türenöffnen die Motorik. Eltern können ihre Kinder durch einfache Rituale wie Schlaflieder und gemeinsame Mahlzeiten fördern – oder durch das Übertragen von ersten verantwortungsvollen Aufgaben wie kleinen Einkäufen. Als die Dozentin darauf hinweist, dass die Kleingruppe nur noch 5 Minuten an dieser Station hat, kommt kurz Unruhe auf, schließlich soll sie sich noch eine Aufgabe für die anderen Teilnehmer_innen überlegen – eine alltagsnahe Aufgabe mit Lerneffekt. Was zunächst schwierig klingt, ist schnell gelöst: Wenig später gehen 15 zukünftige Elternbegleiter_innen rückwärts die Treppe hinunter und zählen dabei die Stufen. Gelächter schallt durchs Treppenhaus, die Stimmung wirkt ausgelassen. Auch die anderen Gruppen haben sich Aufgaben mit viel Bewegung ausgedacht, und alle machen begeistert mit.

Beim Abendessen besprechen die zukünftigen Elternbegleiter_innen ihre eigenen Projektideen: Jede_r soll im Laufe der Schulung ein Projekt entwickeln. Die Gruppe diskutiert es und bringt es gemeinsam voran. Idealerweise sollen beim Abschlussmodul in zwei Monaten die Projekte in der Praxis schon angelaufen sein. Die Ideen sind so vielfältig wie die Teilnehmer_innen selber: Eine Tagesmutter möchte ein Konzept entwickeln, das Eltern den Übergang zur Tagesmutter oder Kita erleichtert. Denn die erste Fremdbetreuung der Kinder ist auch für viele Eltern kein leichter Schritt. Eine Mitarbeiterin des Familienzentrums Kreuzberg plant eine Aktion, mit der die Eltern wieder lernen können, mit ihren Kindern zu spielen: Mit Einwegkameras sollen sie zu Hause Fotos von Spielzeug und Kinderzimmern machen. In einer großen gemeinsamen Bastelaktion soll aus den Fotos dann ein Memory werden, welches Kinder und Eltern gemeinsam spielen. Ein Mitarbeiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes Lichtenberg hingegen plant etwas völlig anderes: Er möchte die dialogischen Ansätze aus der Schulung in den neuen Medien umsetzen. Ihm schwebt ein Facebook-Auftritt vor, mit dem Zielgruppen einbezogen werden, die sonst nur schwer erreichbar sind.

So unterschiedlich die Projektideen auch sind, gemeinsam sind ihnen der Enthusiasmus und die Leidenschaft, mit denen sie diskutiert werden. Die bei Erwachsenen so oft verlorengegangene Begeisterung – zumindest bei den Kursteilnehmer_innen ist sie wieder geweckt.

Der Artikel ist in gekürzter Form in der Fachzeitschrift “Welt des Kindes” erschienen (Ausgabe 06/2013, Autor: Johannes Heeg).